Story
Schwer was auf dem Kasten
Das Bandoneon-Festival in Krefeld ist ein wichtiger Termin für alle Fans des Tango-Instruments in der Region. Dieses Jahr hatten die Veranstalter für das Abschlusskonzert das international erfolgreiche Gabriel-Merlino-Trio verpflichtet. Wir haben den Bandoneoisten Gabriel Merlino zu Gespräch getroffen.
Ein Spiel mit Händen und Knien
Soundcheck in der Fabrik Heeder. Das Licht in der ehemaligen Tapetenfabrik ist gedimmt. Im diffusen Licht sitzt Gabriel Merlino in Jeans und Turnschuhen auf einem Klavierhocker. Während seine Hände über die Tasten fliegen, liegt das Bandoneon mal auf einem, mal auf beiden Knien. Fast schon lässig wirkt sein Spiel, das Merlino immer wieder unterbricht, um sich mit Sängerin Vanina Tagini und Pianist Pablo Woiz zu besprechen. „Im Soundcheck stimmen wir uns im Ensemble aufeinander ein, wir probieren ein paar Sachen aus, die wir anders machen wollen als sonst“, erzählt Merlino im weichen Zungenschlag der Argentinier. Nach einer Stunde ist er zufrieden, bedankt sich beim Pianisten mit einer Umarmung, die Sängerin, mit der er verheiratet ist, bekommt einen Kuss. Für die Techniker gibt es ebenfalls einen Dank. Dann nimmt Gabriel Merlino sein Bandoneon mit beiden Händen auf und legt es vorsichtig in die Instrumententasche. Während des Interviews wird er es in seiner Nähe behalten.
weiterlesen …
Vom Großvater zum Enkel
Revolte am Bandoneon
Keine Angst vor Rap
Wie die Nazis den Tango töteten
Vom Großvater zum Enkel
Das Bandoneon, ganz allgemein, hat eine lange Geschichte. Der Krefelder Heinrich Band entwickelte es ab 1845 auf Basis der Konzertina und erweiterte deren Tonumfang. Auf verschlungenen Wegen, um die sich bis heute einige Mythen ranken, kam das Bandoneon nach Argentinien, wo Astor Piazzolla in den 1950er Jahren den Tango Nuevo erfand – dessen charakteristisches Instrument das Bandoneon ist. Auch die Geschichte von Gabriel Merlinos Instrument, einem schönen Stück mit weinroten Ornamenten, ist erzählenswert. Merlinos Urgroßvater, ein Italiener, der in den 1940er Jahren in Argentinien zu Wohlstand gekommen war, hatte das Instrument zusammen mit einer Geige und einer Gitarre gekauft. „Mein Urgroßvater blieb immer ein Amateur, aber mein Großvater war Profi-Musiker“, erzählt Gabriel Merlino, der als kleiner Junge mit seinem Großvater unter einem Dach lebte. Als dem damals Achtjährigen eines Tages langweilig war, bat er seinem Opa, ihm das Bandoneonspiel beizubringen. Die Familie erkannte das Talent des Jungen und fand einen renommierten Lehrer, der bereit war, ihn zu unterrichten. „Bis dahin war das Instrument immer in der Wohnung meines Großvaters geblieben. Aber nun durfte ich es mit zu mir nehmen. Allerdings nur, bis er es selber brauchen würde“, erinnert sich Merlino an die Worte seines Großvaters. „Er hat mir nicht das Instrument geschenkt. Er hat mir eine Zukunft geschenkt.“
Revolte am Bandoneon
Gabriel Merlino ist 14 Jahre alt, als er am Konservatorium in Buenos Aires einen neuen Lehrer bekommt: Alejandro Barletta gilt als Pionier des Bandoneons, hat als erster in der Musikgeschichte ein Konzert von Georg Friedrich Händel mit dem Pariser Symphonieorchester auf einem Bandoneon gespielt. „Aber Barletta hasste den Tango. Also durfte ich keinen spielen“, erzählt Gabriel Merlino. Bei der jährlichen Studenten-Aufführung des Konservatoriums intonierte er also zwei Stücke von Händel und Bach. Doch als die Zuschauer eine Zugabe forderten, war Merlinos Klassik-Repertoire erschöpft – daher spielte er einen Tango Astor Piazzollas. In den Augen seines Professors ein Frevel: Einen Monat lang redete Barletta nicht mehr mit seinem Schüler.
Vielleicht ist es diese Schmähung, die Gabriel Merlino bis heute antreibt, dem Genre Gehör zu verschaffen. Als 25-Jähriger schafft er es damit sogar ins argentinische Fernsehen, gibt in der Sendung „Solo Tango“ regelmäßig Bandoneon-Unterricht. Unter Musiker-Kollegen bringt ihm das viel Gelächter ein, aber die Sendung ist populär und Merlino kann seine Leidenschaft für den Tango einem breiten Publikum vermitteln. Heute gelingt ihm das mit der Show „Tango Pasión“, die unter anderem drei Mal in der ausverkauften Kölner Philharmonie gastierte und durch ganz Europa tourt. Gabriel Merlino ist musikalischer Leiter der Tango-Show – allerdings mit begrenzter künstlerischer Freiheit. „Die Menschen wollen den traditionellen Tango hören, da kann ich keine Experimente machen“, sagt er mit Bedauern. Ohnehin habe es der Tango immer noch schwer, ein Publikum zu finden. „Tango-Musiker sind nicht bei den großen Konzernen unter Vertrag, die letztlich bestimmen, was die Masse hört. Tango ist nicht mainstream.“
Keine Angst vor Rap
Gabriel Merlino selbst liebt Experimente. Immer wieder lässt er Elemente aus Jazz, Folk oder Barock in seine Musik einfließen; auch mit Rap-Musikern hat er schon zusammengearbeitet. Nur bei einer Sache ist Merlino äußerst streng: Geübt wird jeden Tag. Manchmal nur eine Stunde, manchmal länger. Hauptsache täglich. Er sei ein Bandoneon-Magier, hat ein Journalist mal über ihn geschrieben – andere habe es übernommen. „Doch am Ende ist es wie jeder Beruf, es ist Arbeit“, betont Gabriel Merlino. Und dennoch, ein gewisser Zauber ist auch für ihn dabei: „Die technischen Elemente kann ich üben, aber es geht beim Bandoneonspiel auch viel um Tempowechseln und die muss ich spüren.“ Merlino, der sein Instrument auch unterrichtet, achtet daher zunächst vor allem darauf, ob ein Schüler dieses Gesprür für den Tango mitbringt. So wie bei dem Tangotänzer, mit dem er seit zwei Monaten arbeitet. „Der hat ein super Ohr und kann die Dinge, dich ich ihm vorspiele sofort wiederholen.“
In seiner eigenen musikalischen Entwicklung sieht Merlino das Ende noch lange nicht erreicht. Als nächstes möchte er lernen, große Orchester zu dirigieren. „Theoretisch könnte ich das schon jetzt, aber in der Praxis würde ich wahrscheinlich viele Fehler machen. Deshalb möchte ich für jedes Instrument genau verstehen: Wie funktioniert das, was braucht der Musiker von mir?“.
Wie die Nazis den Tango töteten
Als einer, der immer das Beste geben will, kennt Gabriel Merlino auch nach 40 Jahren Musikkarriere noch Lampenfieber. So wie bei den zwei Konzerten 2023 in der ausverkauften Arena in Buenos Aires. Unter anderem spielte er dort ein halbstündiges Solo-Set – auf riesiger Bühne vor 15.000 Menschen. Die Erlösung kam beim Soundcheck: „Da habe ich gemerkt, okay, die Leute sitzen 40 Meter weit weg. Beim Auftritt war ich dann ganz entspannt, in meiner Welt, die Augen zu, ein bisschen gequatscht.“ Letzteres eine ziemliche Untertreibung, denn das „Gequatsche“ des Musikers ist mehr als fachkundig: Er unterrichtet Geschichte an der Universidad del Tango (CETBA) und hat im Juni sein Buch „Eine Archäologie des Bandoneons“ (nur auf spanisch erhältlich) veröffentlicht, in dem er die Geschichte des Instruments von 1840 bis heute untersucht und mit den sozialen und politischen Realitäten der jeweiligen Epochen verbindet. „Spannend fand ich zum Beispiel, wie die Nazis es geschafft haben, die in Deutschland sehr populären Bandoneon-Clubs zu schließen. In meiner Vorstellung geschah das mit Waffengewalt – aber tatsächlich haben sie einfach hohe Gebühren für das Spielen von Tangomusik erlassen und den Clubs so systematisch das Geschäft kaputt gemacht“, erzählt Merlino. Was wohl geworden wäre, hätten die Deutschen ihre Leidenschaft für den Tango weiter offen ausleben dürfen? Ein müßiger Gedanke. Beim Krefelder Bandoneon Festival jedenfalls werden das Bandoneon und der Tango inzwischen seit fast vierzig Jahren gefeiert. „In dieser Stadt zu spielen, in der Heinrich Band geboren wurde, ist sehr besonders“, sagt Gabriel Merlino. „Für mich ist das wichtigste Festival der Welt.“
Fotos: Julian Kanther